Aktuelles
Neues aus Baltopolis

Wahl des Kalifen

In den Strassen steckt man die Köpfe zusammen. Familienoberhäupter treffen sich zu diskreten Sondierungsgesprächen oder beobachten sich argwöhnisch. Der Kalif muss dieses Jahr in seinem Amt bestätigt werden. Oder will eine Familie vielleicht doch einen anderen Kandidaten vorschlagen?

Propheten aus der Wüste

Ein Jahr ist es nun schon her, seit die Propheten aus der Wüste kamen und ihre Botschaften verkündeten. Ein Jahr, seit sie ihre Wundertaten vollbrachten. Ein Jahr, seit sie von der Ankunft der Heilbringer sprachen. Vom Anbruch der Zeit der Entscheidung, in der sich das Schicksal der Stadt offenbaren werde. Einer Stadt, gereift, um neu geboren zu werden. So künde ich von den Offenbarungen der Propheten!

Die Offenbarung Belarios
Es trug sich zu, dass eine Horde Wüstenräuber eine Karawane überfielen. Die Angreifer wurden zurückgeschlagen. Einige der Banditen wurden gefangen und in der Stadt als Sklaven feilgeboten. Unter ihnen war auch ein alter knochiger Mann, dessen sehnige Haut von langen Narben überzogen war. Und als die Reihe an ihn kam, liess er das versammelte Volk verstummen und sprach:

ERSTE OFFENBARUNG

So höret her, Ihr von Angst geschüttelten!
Denn in der Wüste ruht eine Kraft, die wie ein Sandsturm über alles herfahren wird, um doch nichts anderes zu hinterlassen
als die Oasen blühenden Reichtums, gespeist vom Tribut unterworfener Völker!
Denn Baltopolis stieg einst selbst empor aus dem Sande, um zu führen und zu herrschen!
Aus dem Krieg des Nordens geboren ist sie dem Siege verpflichtet!
So säumet nicht länger,
denn einer wird kommen Euch zu führen zu höchstem Ruhm!
Wohl denen, die sich ihm treu ergeben!
Doch seid Ihr bereit dafür?
Eure Schiffe sind morsch, Eure Säbel rostig. Müßiggang zerfrisst Eure Form. So kehrt um und rüstet Euch, oder der Sandsturm der Aufrechten wird auch Euch hinwegfegen wie getrockneten Kameldung!

Das Volk wurde unruhig ob dieser Worte und die Wachen traten herbei, um den redegewaltigen Sklaven zum Schweigen zu bringen. Doch sein wütender Blick liess sie abermals zurückweichen und er fuhr fort zum Volk zu sprechen:

ZWEITE OFFENBARUNG

Ich habe einen Traum, einen Traum von einer Stadt
in dem die Tüchtigen wieder zu ihrem Recht kommen,
in dem Stärke wieder mit Macht belohnt wird!
Eine Stadt, die sich durch die Schwäche Einzelner nicht herabziehen lässt!
Eine Stadt von der aus prächtige Heerscharen zu Lande und zu Wasser ausziehen, um mit Ruhm und Reichtümern siegherrlich zurückzukehren!
Eine Stadt, vor der sich die Völker der Welt demütig verneigen!
Eine Stadt mit dem mächtigen Geist eines Drachens,
der endlich seiner Schwingen spreizt, um sich zu majestätischen Höhen aufzuschwingen!
Heil Dir, Baltopolis! Geboren bist Du, um zu herrschen!

Und mit diesen Worten sprengte er seine Ketten und stürzte sich auf die umstehenden Wachen. Es heisst, er habe noch ein dutzend Mann mit in den Tod nahm. Die anderen Sklaven sagten, sein Name sei Belario gewesen.

Die Offenbarung des Krassus
In jenem Sommer machte ein Mann von sich reden, der jeden Tag zur Mittagszeit eine zerborstene Säule auf dem Platz vor dem Palast erklomm, um eine Stunde lang dem Volk zu predigen. Mal erschien er in Lumpen, mal in bunten Gewändern. Manche glaubten, in ihm den alten Direktor des Schattenspieltheaters wiederzuerkennen, der seit einem Brand in eben jenem Theater verschwunden war. Andere sagten, er sei ein Eremit, der nach langer Einsamkeit erleuchtet zurückgekehrt sei. Aber so plötzlich wie er kam, verschwand er auch wieder. Von seinen Predigten wurde nur die Letzte aufgeschrieben:

ERSTE OFFENBARUNG

Höret her, Ihr wirren Geister!
Ihr schaut auf die Welt und seht dort keinen Sinn,
man sagt Euch dies, man sagt Euch das,
und am Ende bleibt doch nichts.
Ich aber sage Euch: eben aus diesem Nichts offenbart sich uns die letzte Wahrheit, die ich euch nur anzudeuten vermag.
Denn nur der, der nach mir kommt wird vermögen Euch ganz die Augen zu öffnen.
Doch hört das Wenige, was ich Euch jetzt sagen kann!
Erkennet also, dass alles nur entsteht, damit es dann zu Grunde geht!
So offenbart sich Euch der Weg zur Weisheit: Schaffet und zerstört in immer schnelleren Kreise!
Kein Treiben zu bunt, keines zu wild! Baut die höchsten Türme, reißt sie ein!
Webt die schönsten Gewänder und zieht sie durch den Dreck! Dichtet Lieder und vergesst sie!
Der Schwindel sei Eure Meditation, das Delirium Eure Erleuchtung! Hallelujah!

ZWEITE OFFENBARUNG

Ich habe einen Traum von einer Stadt, in dem die Kurzweil Königin ist!
Eine Stadt, die keine Langeweile kennt!
Eine Stadt, der nichts Bestand hat, außer dem seligen Übermut!
Eine Stadt, in der kein Tag dem anderen gleicht!
Eine Stadt, die nur das Absurdeste gelten lässt!
Eine Stadt, die in ewig zeitlosem Glück mit sich selber tanzt!

Die Säulen vor dem Kalifenpalast werden seitdem nach den Propheten benannt.

Die Offenbarung des Peiotus
Bis zu jenem Tage war er ein Nachtwächter gewesen. Ein gewöhnlicher und einfältiger Mann, der in den Stunden der Dunkelheit mit der Laterne seine Runden ging. Doch an jenem Tage erklomm er im Zwielicht der roten Abendsonne die Säulen der Propheten und sprach von dem, was ihm in der Nacht zuvor offenbart wurde. Und als sich das Volk verwundert um ihn scharte, da fuhr er es wütend an:

ERSTE OFFENBARUNG

Und ich frage Euch, wohin aber führt all Euer Sinnen und Trachten?
Was klammert Ihr Euch so an diese Welt?
Habt Ihr denn vergessen, dass diese nicht die einzige ist,
diese Welt des Sandes und des Geldes, des Steines und des Schwertes, des Körpers und des Todes?
Nein, Ihr habt Hoffnung, sagt Ihr mir, denn wenn des Todes Schleier sich senken,
erheben sich die Frommen ins ewig selige Jenseits.
So sprecht Ihr brav und seid doch blind!
Ihr glaubt Euch dem Himmelreich so fern, und doch täglich berührt Ihr es,
klopft and die Pforte und wagt doch nicht einzutreten.
Wovon ich spreche, fragt Ihr? "Er redet wirr!", warnt Ihr?
Ich aber sage Euch: Wachet, wenn Ihr Euch in des Todes Bruders Armen wiegt, und Ihr werdet schauen!
Im Schlafe schon winkt das goldene Reich, dass der Weise zu betreten weiß.
Und einer wird kommen, der den heiligen Schlüssel trägt, um Euch die Pforte zu öffnen!
Preiset Ihn und harret seiner Ankunft,
und Weisheit und Seligkeit werden Euer Lohn sein!

Und nachdem die Sonne untergegangen war fuhr er im dämmrigen Zwielicht der langen Schatten fort mit den Worten:

ZWEITE OFFENBARUNG

Ich habe einen Traum von einer Stadt,
in der sich am Ende jeder Gasse eine neue Welt eröffnet!
Eine Stadt, deren Strassen in jede Ebene des Seins hinüberreichen!
Eine Stadt, in der sich das Wissen und die Weisheit aller Welten sammeln.
Eine Stadt, bewohnt von den wunderlichsten und göttlichsten Wesen!
Eine Stadt, in der der Himmel und die Erde eins geworden sind.

Die Offenbarung des Libidus
Seine Neider nannten ihn einen Faulpelz und Tunichtgut. Und von Ersteren hatte er so einige. Denn in der Tat verbrachte er die meiste Zeit damit, sich die Sonne auf den Bauch scheinen zu lassen. Er arbeite nicht, und doch erhiehlt er irgendwie sein auskommen. Und es hiess, er sei bei Dirnen beliebt, die ihm freie Logis böten. Es Tages fragten in einige fromme Bürger, warum er nicht wie die anderen ein Al'Waadi gefälliges Leben führe. Er gab diesen zur Antwort:

ERSTE OFFENBARUNG

"Seid fruchtbar und mehret Euch!", lehren das nicht Eure Schriften?
Und gab Al'Waadi Euch nicht Körper und Glieder, um Freude zu empfinden? Was kann es also Höheres geben?
Und doch predigt man Euch, dass Maß zu halten die Frömmigkeit gebiete!
Ich aber sage Euch: All dies ist dummes Geschwätz, um Euch den wahren Segen zu versagen!
So lasset fahren Eurer eitles Denken!
Erhört den Ruf Eurer Begierden! Zaudert nicht länger,
Gebt Euch, was Ihr im Innersten ersehnt und empfangt die Quell der himmlischen Freuden!
Und bald schon, so weiß ich, wird ein Engel des Glücks zu Euch hinabsteigen, um die Stadt in eine Oase der Sinnlichkeit zu verwandeln!
Folget Ihrem Ruf, wenn die Zeit kommt, und der Himmel auf Erden wird der Eure sein!

Und zu Ihrem Erstauenen fügte er hinzu:

ZWEITE OFFENBARUNG

Ich habe einen Traum von einer Stadt, in der die Schönheit regiert!
Eine Stadt, in der jeder seinen nächsten liebt und alle Ihre Königin!
Eine Stadt, in der kein Bedürfnis unerfüllt bleibt,
kein Verlangen unbefriedigt und keine Liebe unerwidert!



Und damit schliesst das Buch der Propheten.